Freude und Verpflichtung

Ich erinnere mich heute noch an einem Tag im vergangenen Jahr. Ich war Gast einer Gesellschaftsjagd, eines Gruppenansitzes, im Norden der Stadt Halle, im Revier Mötzlich-Tornau. Doch ich saß allein auf einer Baumleiter. Ich habe ein bisschen Höhenangst. Ich atmete tief durch, bestieg die Leiter und konzentrierte mich auf die Punkte am Horizont und auf die Geräusche um mich herum. Einige Stunden später war der Schuss gefallen und der „Bock tot“.
Später beim „Strecke legen“ lag dieser und weiteres erlegtes Wild, jeweils mit dem „letzten Bissen“ versehen und einem „Bruch“ (einem grünen Zweig) geschmückt, auf der Wiese vor der Jagdhütte. Die Jagdhornbläser bliesen die Totsignale und der Jagdherr dankte für die erfolgreiche und sichere Jagd. Nach Bekanntgabe, was erlegt wurde, bekam jeder Erleger vom Jagdleiter mit „Weidmannsheil“ einen Bruch überreicht, den er an seinen Jägerhut steckte. Den Abschluss bildeten die Jagdsignale „Jagd vorbei“ und „Halali“. Anschließend wärmten wir uns am Feuer und ich lauschte den Geschichten der Männer, die teilweise von weit her angereist waren.

Uns interessierte das Thema Jagd aus verschiedenen Gründen. Welche Arten von Wild gibt es in der Nähe unserer Stadt? Wo und wie lebt es? Warum machen Menschen den Jagdschein? Und was bedeutet es, Jäger zu sein?
Gustav wurde auf einem Dorf im Norden von Halle groß. Noch heute lebt er auf dem Hof, auf dem er als Kind mit Rindern, Schweinen, Schafen, Hühnern, Enten, Hund und Katzen aufwuchs. Später studierte er Betriebswirtschaft und arbeitet heute bei der Stadtverwaltung. In seinem Inneren jedoch fühle er sich als „Bauer“, sagt er an diesem Morgen zu uns. Bei Kaffee und Streuselschnecken erzählt er uns von „seiner“ Jagd. Auf das Gespräch hat sich Gustav vorbereitet. Auf einem Zettel stehen acht wichtige Begriffe, die für ihn sein Hobby und was es für ihn bedeutet, ausdrücken.
Statt im Supermarkt eingeschweißtes Fleisch aus Neuseeland zu kaufen, von Tieren, die bereits seit über einem Jahr tot sind, geht Gustav lieber selbst auf die Jagd. Dabei respektiert er die Natur und die Lebewesen darin. Strenge Gesetze und Vorschriften regeln in Deutschland die Jagd. „Gab es jemanden in deiner Familie der Jäger war?“, möchte ich wissen. Gustav weiß, dass sein Opa mütterlicherseits Jäger gewesen war, kennen gelernt hat er ihn nie. Aber im Dorf gab es einen alten Jäger, der Gustav immer wieder fragte: „Na, wann machste endlich deinen Jagdschein?“

Damals interessierten Gustav zunächst andere Dinge. Nach der Schule entschied er sich zunächst für die Armee und landete durch Zufall bei der Jägertruppe. Er war viel draußen und sah viel Wild. Dort habe er „Blut geleckt“ so Gustav. In der Erwartung „Beute zu machen“, auf der „Lauer zu liegen“ und auch die Waffentechnik weckten sein Interesse. Und so meldete er sich nach seiner Rückkehr in der Jagdschule an. „Als ich meinen ersten Bock schoss, stieg ich damals mit wackeligen Knien vom Hochsitz runter“, erinnert er sich. Danach saß er stundenlang in der mondfinsteren Nacht neben dem toten Bock. Das ist jetzt über 20 Jahre her. Was er dabei empfand, möchte ich wissen. „Respekt vor der Kreatur“, lautet die Antwort.

In vielen Kulturen gibt es Rituale, mit denen für erlegte Tieren gedankt wird. Die Jäger bei uns haben ihre eigene Sprache, eigene Lieder und Begriffe. „Die Waidmannssprache ist sehr umfassend“, erklärt uns Gustav. Früher war das Jagdhorn das Kommunikationsmittel, gewissermaßen das „Handy“ der Jäger im Wald. Alle, Jäger und Jagdhelfer, kannten die Signale und wussten somit, was gerade passiert. Ein ganz wichtiges Signal ist zum Beispiel „Hahn in Ruh“. Es bedeutet, dass nicht mehr geschossen werden darf und die Waffen sofort zu entladen sind.
550 Hektar umfasst das Gebiet, für welches Gustav gemeinsam mit einem Mitpächter verantwortlich ist. Der Frauenanteil unter den circa 380 000 Jägern in Deutschland steige übrigens stetig, wobei nicht jeder ein Pächter sei, sondern mancher auch als sogenannter Begehscheininhaber ein Revier unterstütze. Auch Gustav hat neben seinem Partner solche Begehscheininhaber. Diese seien auch notwendig, wenn man die unterschiedlichen Aufgaben und Verpflichtungen versteht. So müssen Ansitzeinrichtungen neu gebaut und alte ausgebessert werden, Blühstreifen und Wildäcker angelegt und gepflegt werden, Salzlecken aufgestellt werden und und und… In Notzeiten muss sogar das Wild gefüttert werden. Doch vor allem eine Sache ärgert die Jäger zunehmend: die vielen illegalen Müllablagerungen – dies reicht von der Plastiktüte bis zu Bauschutt und Autoreifen.

Doch abgesehen davon ist es ein schönes Gefühl, sich im Revier frei bewegen zu können oder stundenlang vom Hochsitz aus, bis zum Horizont zu blicken und das Wild zu beobachten. Da Gustav Stunden vor einer Jagd auf den Hochsitz steigt (damit die Tiere nicht seine Witterung aufnehmen können), bleibt dort auch Zeit und Ruhe, um das ein oder andere Buch zu lesen.

Zu einer weiteren Aufgabe gehört die Ausschau nach krankem Wild. Um die Übertragung und Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen zu verhindern, werden deshalb (vom aufgefunden oder verunfallten und ggf. erlegten Schwarzwild) Proben genommen, die vom Veterinäramt untersucht werden.
Und welche Tiere fühlen sich hier bei uns wohl? Rehe finden gute Nahrung und sind ihrem Einstand treu, meint Gustav. Kommt es doch zu Wildunfällen, dann werden die Jäger auch abends oder nachts angerufen. Sie „suchen dann nach“ und erlösen gegebenenfalls das Wild, erklärt er uns. Neben dem Rehwild gibt es in unserer Region jede Menge Wildschweine. Sie fühlen sich in den vielen Maisfeldern wohl, die wiederum in dieser Masse angebaut werden, um den hohen Bedarf der Biogasanlagen zu decken. Doch für die Wildschäden an den Feldfrüchten sind die Jagdpächter schadensersatzpflichtig, wie jedes Ding hat eben auch das Leben der Jagdpächter Schattenseiten.

Und was wird sonst noch erlegt? Außer Rehwild und Schwarzwild, Stockenten und Fasane. Hasen nicht mehr. Das geschossene Wild ist Eigentum des Jägers. Gustav hängt die erlegten Tiere in der eigens dafür hergerichteten Wildkammer ab. Nach einigen Tagen wird es dann „aus der Decke geschlagen“ oder „abgeschwartet“ und grob zerwirkt. So manches Rezept machte schon unter den Jägern die Runde und mittlerweile ist Gustav auch stolz auf seine selbstgemachte Wildschwein-Grillwurst.
Auch Füchse, Marderhunde und Waschbären fühlen sich hier bei uns heimisch. Aus dem Fell eines Waschbären hat sich Gustav eine Mütze von einer Kürschnerin anfertigen lassen. Wenn er sie trägt, erinnert er mich an einen Trapper aus einem Indianer-Film.

Gustav kennt das Wild in seinem Revier und er weiß, an welcher Stelle es „austritt“, aus dem Unterholz hervorkommt. Im vergangenen Mai begleiteten wir ihn auf eine Einzeljagd. An jenem Tag wollte Gustav einen bestimmten Bock schießen. Als das Tier zu sehen war, identifizierte er es, indem er es mit dem Fernglas genau betrachtete. Ein zweites Reh kam dazu. Gustav legte die Waffe an, zielte, atmete tief ein, atmete etwas aus, hielt die Luft an – und schoss. Ein lauter Knall, ein heller Blitz, der Bock sank zu Boden. Ein sauberer Schuss. Das andere Tier schreckte kurz auf, um nach einem Moment an anderer Stelle weiter zu fressen, als sei nichts gewesen.

Gustav lebt die Jagd, das merkt man ihm an, wenn er voller Leidenschaft davon spricht. Zum Beispiel von den monatlichen Jagdhornproben an der Jagdhütte, wo sich die sieben Schüler mit ihrer Lehrerin treffen. Als Pächter-Obmann habe er auch jede Menge Papierkram zu erledigen. Über jedes Jagdjahr muss eine genaue Streckenliste und Abrechnung geführt werden. Übrigens hat jedes Wild unterschiedliche Jagdzeiten, wobei es – abgesehen von Schwarzwild und Füchsen – eine generelle Schonzeit von Ende Januar bis Mitte April gibt.
Gustav weiß um die vielen Vorbehalte und Diskussionen den Jägern gegenüber. Auch er erlebte schon Situationen, in denen er mit Unverständnis konfrontiert wurde. Vorurteile könne man am besten über persönliche Kontakte ausgleichen, sagt er.
Ich sah bei den bisherigen Einzel- und Gesellschaftsjagden viele berührende Gesten. Dazu zählen für mich die verschiedenen Riten, das Totsignal, das Schmücken mit dem Bruch. Und ich erlebte, dass sich die Jäger bewusst waren, dass sie über Leben und Tod entscheiden.

Und wir? Wie gehen wir mit dem Fleisch auf unseren Tellern um? Wenn in unserer Familie ein Stück Fleisch auf dem Teller liegt, dann sprechen wir kein christliches Tischgebet, doch wir halten für einen Moment inne und sprechen einen Dank an das Tier. Dies dient uns dazu, bewusster damit umzugehen.
Gustav hat seit Jahren kein Supermarktfleisch mehr gekauft. Und er freut sich, wenn ihn seine Kinder ab und zu auf den Reviergängen begleiten.

Am Ende interessierte mich natürlich noch eine Sache. Nämlich was der alte Mann zu ihm gesagt hatte, als er erfuhr, dass Gustav erfolgreich die Jagdprüfung bestanden hatte? „Gut gemacht! Den Begehschein kannst du nächste Woche abholen“, erinnerte sich Gustav.

Wir, Ricarda Braun und Berit Ichite, danken Gustav für seine Geduld und das viele Erläutern der uns unverständlichen Begriffe. Wir wünschen stets guten Anblick, eine sichere Kugel, viel Waidmannsheil und wenn die Zeit reif ist, einen guten, neuen, vierbeinigen Gefährten.

(Text: Berit Ichite, Fotos: Ricarda Braun)

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