„Jeder Mensch ist einzigartig, jeder geht einen eigenen Weg. Nur, wie findet man diesen Weg? Ist er vorherbestimmt? Gibt es Quellen, zu denen wir gehen können?“ Unter anderem wegen dieser Fragen, die uns bewegen, gründeten wir im vergangenen Jahr unser Projekt „Lebenswege“. Wir wollen herausfinden, wie Menschen, die wir spannend finden, ihren Weg fanden und gehen. Eine Frau, die wir unbedingt kennen lernen wollten, ist Johanna Quaas. 90 Jahre alt – stop, 90 Jahre JUNG; denn Johanna Quaas, ganz ehrlich, ist einfach der Hammer.
Frau Quaas ist ein Fan der englischen Queen. Die beiden Damen verbindet mehr als nur das Alter und die ersten beiden Anfangsbuchstaben. Bestimmt noch in diesem Jahr wird Frau Quaas der englischen Königin einen Tandemsprung widmen. Denn wie die Queen, die täglich ihrer Lebensaufgabe nachgeht, verhält sich auch Frau Quaas.
Johanna Quaas ist Turnerin und einigen von Euch vielleicht aus dem Fernsehen oder der Zeitung bekannt.
Ich traf sie an einem Morgen in der Turnhalle, wo sie mehrmals in der Woche trainiert. Wir begannen mit Aroha-Fitness, einer Kombination aus Haka (dem Kriegstanz der Maori) und traditionellen Elementen aus Kung-Fu und Tai Chi. Ich war an diesem Morgen die Jüngste, alle anderen Damen plus sechzig. Frau Quaas war die Älteste. Nach dieser Stunde Sport machte sie sich warm (ich war es schon) und stretchte ihre Gliedmaßen. Dann zeigte sie mir einige Übungen ihrer Bodenkür, auf der Bank und am Barren.
Von den Amerikanern wurde Johanna Quaas in die Hall of Fame der Turnkunst aufgenommen. 2012 und 2013 nahmen sie die Briten ins Guinness Buch der Rekorde auf und zwar als älteste, aktive Wettkampfturnerin der Welt. Den internationalen Ehrungen ging ein Youtube Video voraus, das Johanna bei einer Bodenübung zeigt. Das war 2012 und Johanna Quaas damals 86 Jahre alt. Das Video sahen inzwischen mehr als drei Millionen Zuschauer. Dabei „ging alles erst mit 56 richtig los“, meint Frau Quaas und erzählt wie sie an Wettkämpfen teilnahm, nachdem ihre drei Kinder aus dem Haus waren.
An einem anderen Tag, treffe ich Johanna in ihrem Zuhause in der Südstadt. Manche Bewohner des mehrgeschossigen Wohnhauses erfuhren erst aus dem Fernsehen, wer ihre Nachbarin ist. Das war nach dem Auftritt bei Gottschalk und Jauch. Johanna Quaas ist lebendig, sie lacht viel und erinnert sich gut an ihr bewegtes Leben. Geboren in Hohenmölsen, der Vater war Leitungsaufseher bei der Post, die Mutter Verkäuferin, turnt Johanna seitdem sie denken kann. Der Vater trainierte nebenbei die Jungsriege und manchmal war Johanna dabei oder der Vater pfiff und dann zeigte Johanna den Jungs, was der Vater sehen wollte. Im Sommer war der Sportplatz der Spielplatz, da rutschte Johanna vom Kirschbaum runter und die Kinder turnten am Reck und an den Kletterstangen. Lieb waren die Eltern, erzählt Johanna, und zeigt mir ihre Fotoalben. Der Vater war stark und hob seine kleine Tochter auf einem Arm hoch in die Luft. Er hätte gern gewollt, dass sie Sekretärin geworden wäre, doch Johanna hatte da ganz andere Pläne.
Sie wollte unbedingt Sportlehrerin werden. Der Weg dahin war alles andere als einfach und der Spruch: „also mit den Füßen können sie nicht Sportlehrerin werden“, war da noch ihr kleinstes Problem. Denn zunächst galt es ganz andere Hürden zu nehmen. Es war Krieg, überall herrschte Chaos. Das obligatorische Pflichtjahr musste geleistet werden. Nach dem Ende des Krieges wurde das Turnen sogar für weitere zwei Jahre komplett untersagt. Johanna ging nach Stuttgart, um Sportlehrerin zu werden. Die Eltern bezahlten viel Geld, doch eine Anstellung fand sie danach nicht. Der pädagogische Teil der Ausbildung fehlte ihr. Sie kam zurück in die Nähe der Eltern, arbeitete bei einem Bauern und spielte im Team der Handballerfrauen. Diese waren so erfolgreich, dass sie 1954 den DDR-Meistertitel gewannen. In der Zwischenzeit hatte Johanna doch noch ihr Lehrerstudium absolviert und lebte inzwischen in Halle. In der Jahn-Turnhalle lernte sie eines Tages ihren zukünftigen Mann, Gerhard, einen Trainer, kennen. Im Trainingslager in Bakenberg an der Ostsee trainierten Männer und Frauen noch gemeinsam und das tat der Liebe gut.
Neben ihrer Arbeit als Sportlehrerin leitete Johanna nachmittags Kindersportgruppen. Abends blieb sie länger, um für sich zu trainieren. „Jeder hat eine Fähigkeit, wo er oder sie sich hervortun könnte. Nicht nur sportlich – überhaupt. Jeder kann das aus sich heraus finden“, sagt Johanna Quaas. Sie selbst „habe ihr Leben lang für das Turnen und den Sport gelebt“, erzählt sie. Die drei Töchter seien deshalb in der Turnhalle groß geworden. Mit dicken Bauch habe sie ihre Kampfrichterdienste wahr genommen und gestillt habe sie eben „zwischendurch“. Wenn Johanna und Gerhard an den Wochenenden oft zu Wettkämpfen fuhren, sprangen die Eltern ein und halfen.
Johanna Quaas wirkt aktiv, kraftvoll und vital. „Wenn ich nichts mache, gehe ich wie ne alte Frau“, sagt sie und wir lachen. Früher habe sie oft zurück gesteckt, für den Mann und die Kinder. Heute genieße sie ihre Zeit als aktive Rentnerin, die sie als schönste Zeit ihres Lebens beschreibt. Mit ihrem Mann unternahm sie viele Reisen, von London bis Argentinien wurde sie eingeladen. Ihr Leben verging schnell, meint Johanna, gelangweilt habe sie sich nie. Da in ihrer Altersklasse keine andere Frau mehr Wettkämpfe turnt, musste sie oft in jüngere Gruppen ausweichen. Vor den Wettkämpfen sei sie immer aufgeregt gewesen, meint sie. Denn: „ich wollte mich nicht blamieren“. „Was kommt, wenn sie nicht mehr turnen könnte?“, frage ich. Wenn es mit dem Sport hier nichts mehr ist, dann würde sie zum Gruppen- oder Gesellschaftstanz gehen, antwortet mir Frau Quaas.
Ihren Weg ging sie immer selbstbestimmt und mich beschleicht das sympathische Gefühl, dass sich Johanna Quaas nie viel aus den Meinungen anderer Leute gemacht hat. Sie wurde Sportlehrerin, obwohl alles dagegen sprach. Sie hat ihr Leben lang Sport gemacht, ohne Muss – einfach weil es ihr Freude macht. Sie hat gefunden, was für sie richtig war und ist.
Ich gebe zu: auch ich bewundere die Queen. Ich habe sie sogar einmal live gesehen. Doch es freut mich noch mehr, dass wir auch in Halle so eine fitte und vitale 90jährige Dame haben. Johanna Quaas, die älteste, aktive Turnerin der Welt.
Ricarda und ich danken Johanna Quaas. Und irgendwie sind wir immer noch ein bisschen baff, wenn wir an die Begegnungen mit ihr denken. Wir haben uns vorgenommen, nicht über Zipperlein zu jammern. Statt dessen denken wir an Johanna und ihre Kür am Barren, inklusive Stützwaage!
(Text: Berit Ichite, Fotos: Ricarda Braun)