Ein halbes Jahrhundert

Der Hirte Martin Winz

Vielleicht kennen auch Sie die Hirten vom Volk der Massai? Die in ihren roten Röcken, auf einen langen Stab gestützt, ihre Viehherden bewachen? Doch wem sind noch unsere Hirten vertraut? Fünfundsiebzig Schafherden gab es zu DDR-Zeiten im alten Saalekreis. Ganze fünf gibt es heute noch. Einer der wenigen Hirten, die ihre Herde noch ins Freie führen, ist Martin Winz.

Jeden Tag, um fünf Uhr morgens, steht Martin Winz auf und fährt in aller Herrgottsfrühe zu seinem Stall in der Nähe des Petersberges. Dort wohnen die Esel und die Ziegenböcke. Daneben befinden sich die Hütten seiner Hunde. Im Stall hat Martin Winz auch ein kleines Büro. An der Wand hängt ein Gemälde des Vaters, welches die Mutter beim Spinnen zeigt. „Ich bin ja eigentlich ein Stadtmensch“ sagt Winz, der drei Jahre nach Ende des Krieges in Krakau bei Zerbst geboren wurde und mit seinen Geschwistern und den Eltern in einem Forsthaus aufwuchs.

Wir treffen Martin Winz an einem frischen Oktobertag. Nachdem er sich umgezogen hat, fährt er mit seinem Auto durch den Morgen in die Brachwitzer Alpen. Drängelnde Autofahrer ignoriert er. Später wird er uns sagen, was er von Leuten hält, die im Auto sitzen und dennoch keine Zeit haben. Irgendwo auf einer Wiese parken wir die Autos und laufen über die feuchte, nasse Erde zum Pferch, wo die Schafe im Freien die Nacht verbrachten. Bevor Martin Winz seine Schafe rauslässt, nimmt er den Salzstein und wirft ihn auf den Platz für die kommende Nacht.

Die Schafe, 450 trächtige Wollknäule, allen voran die Leittiere, strömen ins Freie. Atze und Simpel, zwei altdeutsche Gelbbackenhunde, begleiten Martin Winz an jenem Tag und unterstützen ihn bei seiner Arbeit. Hat Martin Winz einen Ort zum Grasen gefunden, zieht er eine Linie mit seinen Schritten, die nun für die kommenden Stunden als Grenze für die Schafe dient und auf denen die Hunde ihre Wachposten beziehen.

Schafe fressen viel. Sie fressen bis ihr Pansen voll ist, dann legen sie sich nieder und käuen wieder. Irgendwann stehen sie auf und fressen weiter. In der ganzen Zeit, Tag für Tag, sieben Tage die Woche, zehn Monate im Jahr, steht Martin Winz daneben und hütet seine Herde.

Wie also wird einer Schäfer, der aus der Stadt kommt? „Ich wollte immer dienen“, erzählt Winz an diesem Donnerstag, der nebelig ist und kalt.
Den ersten Kontakt mit Schafen hatte Winz als kleiner Junge beim jährlichen Krippenspiel in der Kirche. Und dann gab es da noch diesen alten Mann, Opa Bindig, einen Umsiedler aus Schlesien, der dem kleinen Jungen von den großen Schafherden seiner Heimat erzählte. „Das hat mich beeindruckt“, meint Winz und erzählt von dem alten Flüchtling, der der Mutter im Haushalt half und für die Jungen eine wichtige Bezugsperson war. Als er starb, war Winz ungefähr sechs Jahre alt. „Das war ein Verlust für uns Kinder“, erinnert er sich. Opa Bindig war gestorben, doch der Same, den er in dem jungen Martin gepflanzt hatte, ging auf.

Wie der brasilianische Dichter Paulo Coelho spricht auch Winz von einem Weg und von den Menschen, die uns auf unserem Weg als Lehrer und Meister begegnen. Nicht immer gleich erkennbar führen und leiten sie uns und ebnen uns, rückblickend betrachtet, den Weg. Mit Martin Winz zu reden, der sonst seine Tage draußen fast in völliger Einsamkeit verbringt, ist interessant und macht Freude. Zu fast allen Themen hat er eine Meinung, eine menschliche, die große Weitsicht erkennen lässt. Vom Opa Bindig kommen wir auf das bewegende Thema dieser Tage, die Flüchtlinge. Flüchtlinge werden mit den Waffen hergetrieben, die Deutschland dorthin geschafft hat“, spricht Martin Winz und äußert den Wunsch, „dass die Flüchtlinge jeden Deutschen daran erinnern mögen, dass es uns an nichts fehlt.“ Ein Jammervolk seien wir Deutsche, fährt er fort. Für manche bräche schon die Welt zusammen, wenn die Zeitung mal zehn Minuten später kommt. Und Fluchtbewegungen seien schließlich nichts Neues, fährt er fort.

Mit sich und der Welt zufrieden wirkt Winz. Dabei sei kein Tag draußen wie der andere, erzählt er uns. Vor allem aber habe er immer Buntfernsehen, sagt Martin Winz. Die Aussage rührt mich zu der Frage, ob er denn zu Hause Fernsehen schaue. Winz verneint und äußert sein Unverständnis über die Sender, die nicht ohne eine Pistole auskommen. Überall werde geschossen und gemordet und gleichzeitig würde man sich wundern, warum die Menschheit so verrohe.

Ruhig spricht Winz, nur ab und zu hallt seine Stimme, wenn er die Hunde ruft, die an diesem Tag, wegen uns, den Besuchern, noch lebendiger sind als sonst. Er passt in diese Landschaft, dieser Mann, dessen wettergegerbtes Gesicht kaum Falten erkennen lässt. Silberne Knöpfe zieren die schwarze Weste. Um den Körper trägt der Hirte seinen Lederbeutel mit dem Essen, dessen Gurt goldene Herzen ziert. In der Hand hält Winz den langen Stock, mit dem Knauf (er nennt es sein Sofa) und dem Greifer am Ende, mit dem er die Hinterhufe der Schafe fassen kann. Gegen den Regen schützt Martin Winz sich mit einem Hut auf dem Kopf, einer dünnen Regenjacke und Gummistiefeln an den Füßen. Wenn der Frost kommt, könnten diese schon mal kalt werden. Doch umso schöner sei es, an solchen Tagen nach Hause zu kommen. Wie ein kleiner König fühle er sich dann, meint Winz und verweist auf die Menschen, die den ganzen Tag in ihrer Neubauwohnung hocken und gar nicht mehr wirklich wissen, was Wärme ist.

Inzwischen ist es Mittag geworden und langsam hellt sogar der Himmel auf. Winz ist Diabetiker und muss sich an feste Essenzeiten halten. Er isst eine Schnitte und gibt ein Stück davon seinen Hunden. Dazu ein Apfel. Was sein Lieblingsessen sei, frage ich ihn. „Pellkartoffeln mit Salzhering“ sagt Winz und da ist er wieder der Bogen, der zum Anfang führt. Denn Pellkartoffeln kochte Opa Bindig, während die Mutter Winz zum Einkaufen ging. Direkt nach der Schule lernte Winz damals seinen Beruf und führte schon früh allein eine Herde. Als junger Mann kam er nach Seeben bei Halle. Seitdem geht er hinaus mit seinen Schafen, tagaus, tagein, seit mehr als 51 Jahren. Ein halbes Jahrhundert hütet Martin Winz. Er hat viel gesehen, viel mit ansehen müssen. Nur durch die Gelder, die die Schäfer für die Landschaftspflege vom Bund und/oder der EU bekommen, können sie noch überleben.

Neu ist für mich nicht nur, dass Schafe an Bäumen fressen und sich mit Hilfe der überaus gesunden Hagebutten auf den Winter vorbereiten. Bisher war mir auch unbekannt, welche Aufgabe die Schafe eigentlich haben. Sie dienen nicht dem Fleischverkauf, sondern sorgen vielmehr dafür, dass Büsche nicht überhand nehmen und das Gebiet nicht verwaldet. Nur durch die Schafe haben die kleinen Pflanzen, die hier auf dem felsigen Grund wachsen, genug Licht und Freiheit zum Überleben.

Martin Winz hat sich seinen Berufswunsch erfüllt. „Ich hab den Himmel auf Erden“, sagt er. Er ist Schäfer geworden und dient sein Leben lang den Tieren. Und auch seinen Lebenswunsch konnte er sich erfüllen: einmal in den Alpen Schafe hüten. „Verfolge Deinen Traum und das Universum wird alles daran setzen, ihn zu erfüllen“, lautet ein Spruch. Damals vor acht Jahren war Winz sechzig Jahre alt und gerade kurzzeitig arbeitslos. Als das Angebot kam, sagte er sofort zu. Auf über 2000 Metern Höhe hütete er vier Monate lang eine Herde und machte dabei noch einmal ganz neue Erfahrungen. Zum Beispiel, wie von jetzt auf gleich das Wetter umschlug und Naturkräfte tiefe Gräben in die Landschaft zogen. Wie im Krieg fühlte er sich, wenn die Donner krachten, so laut sei es gewesen. Doch auch die Menschen dort seien ganz anders, weiß Winz zu berichten, sehr hilfsbereit, denn nur so könnten sie in der kargen Bergwelt überleben. War dies das schönste Erlebnis in seinem Leben, möchte ich wissen? „Nein. Dies war die Geburt meiner Söhne“, sagt Winz. „Ein Erlebnis, dass mit nichts zu vergleichen ist.“ Beide Söhne sind übrigens, wie ihr Vater, Schäfer geworden.

Bis Anfang Dezember wird Martin Winz noch in den Brachwitzer Alpen stehen. Neben seiner Herde mit den 450 trächtigen Schafen. Tag für Tag, Woche für Woche. Dann, an einem Sonntag, wird er seine Herde heimführen und im Stall von Krosigk mit über 800 Menschen am Heiligabend Gottesdienst feiern. Im Januar des neuen Jahres wird er im Stall wohnen und jede Nacht bei seinen Schafen wachen, wenn sie ihre Lämmer zur Welt bringen. Genauso wie es ihm Opa Bindig vor vielen, vielen Jahren mit den Ziegen in Zeitz vorlebte. Der Kreis ist geschlossen.

Martin Winz ist der Hüter, der Schäfer, der Hirte. Ein guter Hirte.

(Auszug „Ein halbes Jahrhundert – Der Hirte Martin Winz“, Berit Ichite)

Geschichte am Rande: Die Heimkehr der Schafe

(Text: Berit Ichite, Fotos: Ricarda Braun)

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